Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 09.04.2024 entschieden, dass § 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 BGB mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG unvereinbar ist. Bis zum 30.06.2025 muss der Gesetzgeber den verfassungswidrigen Zustand beseitigen.

Der Sachverhalt: Eine Mutter von 5 Kindern, die von verschiedenen Männern stammen, wurde von ihrem damaligen Lebensgefährten, mit dem sie auch zusammenlebte, schwanger. Nach der Geburt trennten sie sich. Das Kind blieb bei der Mutter. Der leibliche Vater versuchte, seine Vaterschaft durch Anerkennung mit Zustimmungserklärung der Mutter einzurichten. Die Mutter erteilte ihre Zustimmung jedoch nicht. Daraufhin stellte er einen Feststellungsantrag. Einen Monat nach Antragstellung erkannte der neue Lebensgefährte der Mutter, der mit ihr nunmehr auch zusammenwohnte, mit ihrer Zustimmung die Vaterschaft an, obwohl er nicht leiblicher Vater ist. Nach Einholung eines genetischen Abstammungsgutachtens wurde die rechtliche Vaterschaft des Lebensgefährten beseitigt und die Vaterschaft des leiblichen Vaters festgestellt. Unter Hinweis auf eine Kammerentscheidung des BVerfG orientierte sich das Familiengericht daran, dass zum Zeitpunkt der Vaterschaftsanerkennung noch keine sozial-familiäre Beziehung zum Lebensgefährten bestand und daher eine Versperrung der Anfechtung durch den leiblichen Vater zu diesem Zeitpunkt, der maßgeblich sei, nicht vorgelegen habe (AG Halle Beck RS 2021, 61917). Auf die Beschwerde hob das OLG Naumburg die familiengerichtliche Entscheidung auf und wies den Anfechtungsantrag ab. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH (BGH NJW 2021, 1875) könne nicht auf den Zeitpunkt der Anerkennung abgestellt werden, ausnahmslos maßgeblich sei der Zeitpunkt am Ende der letzten mündlichen Verhandlung (OLG Naumburg NZFam 2023, 664). Dass die Vaterschaft des leiblichen Vaters bei bestehender sozial-familiärer Beziehung dann grundsätzlich nicht erlangt werden könne, müsse hingenommen werden.

Die Entscheidung: Nach der nicht zu beanstandenden Auffassung des BGH sei eine rückbezogene Bewertung aus fachrechtlicher Sicht ausgeschlossen und damit die Bemühungen des leiblichen Vaters, ebenfalls Elternverantwortung zu tragen, bei der Bewertung i.R.v. § 1600 Abs. 2 BGB bedeutungslos. Die effektive Möglichkeit, Vater zu werden, werde damit nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Er sei zwar denkbar, dass eine sozial-familiäre Beziehung schützenswert sei und der Gesetzgeber insoweit einen Vorrang installiere; die aktuelle Rechtslage stelle aber keinen verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich unter Einschluss der Rechte des leiblichen Vaters zur Verfügung. Denn insbesondere würden vorherige sozial-familiäre Beziehungen und Bemühungen, Elternverantwortung zu tragen, nicht berücksichtigt. Und auch dann, wenn eine die Anfechtung versperrende sozial-familiäre Beziehung zum rechtlichen Vater später entfalle, bestehe keine Möglichkeit, in die rechtliche Elternstellung zu gelangen.

Das BVerfG fordert deshalb ausreichende Möglichkeiten, durch eigenes Verhalten auf die Voraussetzungen des § 1600 Abs. 2 Alt. 1 BGB Einfluss zu nehmen und damit das Elterngrundrecht mit der Elternverantwortung zu harmonisieren. Das könne nicht von Zufällen und zeitlichen Abläufen abhängen, es könne auch nicht allein dem Willen der Mutter unterfallen. Jeder Wettlauf um die rechtliche Vaterstellung erfülle den Anspruch an den Gesetzgeber nach einer verfassungskonformen Ausgestaltung nicht.

In Abänderung der bisherigen Rechtsprechung wird das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nunmehr auch für leibliche Väter eröffnet. Voraussetzung dafür ist, so die neue Rechtsprechung des Senats, dass die Vaterschaft aus einer genetischen Verbindung mit dem Kind aufgrund eines natürlichen Zeugungsaktes mit der Mutter folge (für private Samenspender dürfte das also nicht gelten). Die Grundrechtsträgerschaft stehe in diesem Fall neben jener der Mutter und des bereits installierten rechtlichen Vaters. Auch in Konstellationen, in denen mehr als zwei Personen Elternrechte innehaben und Grundrechtsträger sind, müsse der Gesetzgeber gewährleisten, dass diese ihre Elternverantwortung auch wahrnehmen können. Dabei stehe es dem Gesetzgeber frei, auch eine erweiterte Elternschaft in Bezug auf den leiblichen Vater, neben dem rechtlichen Vater, zu installieren. 

Zum Hintergrund: In einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 hatte das BVerfG noch festgestellt, dass Art. 6 Abs. 2 GG kein Recht des leiblichen Vaters gewähre, in jedem Fall vorrangig vor dem rechtlichen Vater die Vaterstellung eingeräumt zu erhalten und diesen damit aus seiner Vaterposition zu verdrängen (BVerfG NJW 2003, 2151, 2154). Dass der Gesetzgeber dem rechtlichen, nicht leiblichen, Vater bei bestehender sozial-familiärer Beziehung aber sogar einen Vorrang eingeräumt hat, akzeptierte das BVerfG seinerzeit nur unter Hinweis darauf, dass mit der anderenfalls eintretenden rechtlichen Neuzuordnung der Zusammenhalt des bisherigen Familienverbands, in dem das Kind lebt, durch die Auflösung der Rechtsbeziehungen seiner Mitglieder beeinträchtigt würde. Aus der Divergenz von rechtlicher Zuordnung und sozial-familiärer Beziehung könnten Konflikte entstehen, die einerseits eine Erziehung des Kindes zu seinem Wohl gefährdeten und andererseits dem Kind die Orientierung erschwerten, zu wem es gehört (BVerfG NJW 2003, 2151, 2155). Der Senat hatte seinerzeit darauf abgestellt, dass allerdings bei einer fehlenden sozial-familiären Beziehung zum rechtlichen Vater kein schützenswertes Interesse vor einer Neuzuordnung bestehe und betont, dass die Anfechtung für das Kind zwar einen Wechsel in seiner Zuordnung zum Vater bedeute, dadurch sei das Kindeswohl jedoch nicht wesentlich berührt, wenn es zwischen dem Kind und dem rechtlichen Vater keine im Zusammenleben mit diesem entstandene Beziehung gebe, die beeinträchtigt werden könne. Die entstehende Kongruenz zwischen leiblicher und rechtlicher Vaterschaft wurde als positiv herausgestellt. Eine Vorverlagerung des Bewertungszeitpunktes hatte das BVerfG allerdings in einer Kammerentscheidung akzeptiert, um der gebotenen Effektivität der Erlangung einer rechtlichen Elternschaft des leiblichen Vaters Rechnung zu tragen (BVerfG NJW 2018, 3773). Die Kammer vertrat die Auffassung, dass eine Anfechtung jedenfalls dann durch eine rückbezogene Bewertung nicht an einer sozial-familiären Beziehung zum rechtlichen Vater scheitern dürfe, wenn der leibliche Vater den Antrag zu einem Zeitpunkt gestellt hatte, in dem die Elternstellung für ihn offenstand und auch noch kein anderer Mann eine soziale Vaterstellung für das Kind eingenommen hatte.

Weitere Aspekte: Neben der Stärkung der Rechte leiblicher Väter – und damit verbunden einer erneuten Korrektur des Gesetzgebers im Anfechtungsrecht des § 1600 BGB – sind v.a. die Ausführungen des Senats zur möglichen Mehr-Elternschaft bemerkenswert: Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG bestimme nicht, welche Personen als Träger des Elterngrundrechts und damit Inhaber der Elternverantwortung infrage kommen. Die konkrete Ausgestaltung obliege den Gesetzgeber, dieser könne Personen aus dem Kreis der Eltern extrahieren und ihnen die Elternverantwortung grundrechtlich übertragen. Dabei sei der Gesetzgeber allerdings insoweit beschränkt, da eine wesensmäßige Umgestaltung des Elternrechts ausgeschlossen sei. Grundrechtlich strukturprägend (und daher beachtlich) sei die Verknüpfung von Elterngrundrecht und Elternverantwortung. Elterliche Verantwortung als elementarer Bestandteil des Elterngrundrechts umfasse jedoch nicht bloß das Recht auf Umgang oder das Sorgerecht. Es beinhalte die Pflicht zur Pflege und Erziehung des Kindes und sei dabei nicht, wie sich aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt, von vornherein auf bloß zwei Elternteile beschränkt. Es sei auch nicht bedeutsam, ob die statusrechtliche Zuordnung auf einer leiblichen, genetisch-biologischen Abstammung oder auf einer rechtlichen Zuweisung beruhe. Der Gesetzgeber müsse allerdings nicht sämtliche Mütter und Väter (auf der Ebene leiblicher und rechtlicher Abstammung) Elternverantwortung einräumen.

Als Lösung skizziert das BVerfG u.a. die Anerkennung auch des leiblichen Vaters neben dem rechtlichen Vater als weitere Elternstelle. Werde dies vom Gesetzgeber im Rahmen seiner Entscheidungsprärogative nicht gewählt, sondern möchte er an einer Zwei-Elternschaft festhalten, müsse dem leiblichen Vater allerdings ein effektives Verfahren zur Verfügung stehen, rechtliche Elternstelle zu werden. Das werde derzeit durch die Regelung des § 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 Satz 1 BGB nicht gewährleistet.

 

Dr. Marko Oldenburger

Fachanwalt für Familienrecht

Fachanwalt für Medizinrecht

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